Wie wir herausfinden, was unser Verhandlungspartner möchte

Prof. Dr. Jack Nasher
3 min readNov 26, 2021

Es ist nicht immer einfach mit unserem Gegenüber: Hinter scheinbar unbedeutenden Gesten und Äußerungen versteckt sich eine bedeutende Motivationslage — aber man bemerkt es nicht mal im Entferntesten. Warum? Die wenigsten Leute wissen über die Interessenshierarchien ihrer Mitmenschen Bescheid. Dabei gibt es starke Grundbedürfnisse, die wir grundsätzlich bei jedem annehmen dürfen. Das befreit uns nicht von der Aufgabe, genau zuzuhören, gibt uns aber einen strategischen Rahmen.

Jack Nasher berichtet in seinem Besteller Deal von einem Modell, das in der Wissenschaft und auch in vielen anderen Ratgeber-Bereichen als unumstrittener Standard gilt: die Maslowsche Bedürfnispyradmide. Dieses Modell wird seit Jahrzehnten auf Menschen, Organisationen, ja sogar ganze Nationen angewendet. In ihr ist zum Ausdruck gebracht, dass Grundbedürfnisse des Menschen eine empirisch beobachtbare Reihenfolge haben: Physiologische Grundbedürfnisse schlagen demnach in der Hierarchie der Interessen Bedürfnisse nach Sicherheit und sozialer Interaktion, die stehen aber beide noch vor Eigeninteressen wie zum Beispiel Autonomie, Prestige oder Erfolg und die wiederum vor der Entwicklung des eigenen Potenzials, sprich der Selbstverwirklichung. Konkreter gesprochen: Futtern ist wichtiger als Haus, Haus ist wichtiger als Freunde, Freunde sind wichtiger als Medaillen, Medaillen sind wichtiger, als ein eigenes Buch zu schreiben. Zumindest der grundsätzlichen Dominanz nach, also wenn Menschen genötigt sind, sich festzulegen.

Das heißt nicht, dass diese Dinge individuell und sozial nicht zum Teil untrennbar durcheinandergeraten können. Aber wir dürfen trotzdem annehmen, dass jeder von uns, wenn es drauf ankommt, in etwa diesem Gerüst folgt. Was heißt das nun für uns als Verhandlungsexperten? Wir müssen genau hinhören, wo sich unser Gesprächspartner gerade seinen persönlichen Umständen nach befindet: Möchte er erstmal bloß — entsprechend der Verhandlungssituation natürlich — den Festvertrag, irgendeine Wohnung, so schnell wie möglich ein paar winterfeste Schuhe? Oder geht es ihm um Karriere, ein Heim für seine zukünftigen Kinder oder den aktuellsten Mode-Standard? Die Dringlichkeit einer existenziellen Verhandlungssituation ist für den anderen natürlich deutlich stärker, seine Bereitschaft, sich ihren Forderungen zu beugen demnach womöglich dann wesentlich höher. Geht es demgegenüber um die höheren Sphären, also um Bedürfnisse nach Freiheit, Unabhängigkeit, sozialer Bestätigung oder eben auch Selbstverwirklichung, differenzieren sich die konkreten Interessen aus. Unser Verhandlungspartner überlegt jetzt womöglich zweimal, ob er sich auf eines unserer Angebote einlassen möchte oder ob er nicht auch beim Wettbewerb ein passenderes Modell auftun kann.

Wie kann man sich dieses Modell nun zunutze machen? Es geht natürlich nicht darum, Notsituationen anderer Menschen zu missbrauchen, sondern darum, das passende Angebot für unseren Verhandlungspartner zu finden. Wie Jack Nasher und auch andere oft betonen, leben erfolgreiche Verhandlungen nicht davon, kurzfristig rasante Abschlüsse zu machen, sondern eine Beziehung zu installieren, die von langfristigem Wert ist, die eigene Reputation fördert und Vertrauen schafft. Wir wollen dem Gesprächspartner dabei helfen, sich selbst besser zu verstehen, wir wollen Lösungen anbieten, keine einseitigen Vorteile provozieren. Die Beschäftigung mit Maslow und seiner Bedürfnishierarchie ist ein wichtiges Tool, um Menschen im Allgemeinen besser zu verstehen. Sie kann uns auch dabei unterstützen, den Wert einer Sache zu bestimmen, wichtiger ist aber, den Wert der Verhandlungssituation für beide Seiten zu verstehen.

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Prof. Dr. Jack Nasher
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Prof. Dr. Jack Nasher ist führender Verhandlungsexperte, Autor, Wissenschaftler und Vortragsredner. Außerdem ist Nasher Leiter des NASHER-Verhandlungsinstituts.